Sprache für die Nöte der Seele finden
Von Barbara Haimerl, 15. Oktober 2024, aus Salzburger Nachrichten
Die Halleiner Psychotherapeutin Lisa Glück in der Landesberufsschule Hallein mit Golli Marboe, dem Initiator der Tage der psychischen Gesundheit.
Bild: Sn/Robert Ratzer
Nach dem Suizid seines Sohnes gründete Golli Marboe die Tage der psychischen Gesundheit an Schulen. Das Projekt kommt nach Salzburg.
HALLEIN. Von seinen vier Kindern – zwei Buben und zwei Mädchen – lebe eines nicht mehr, erzählt der Wiener Journalist Golli Marboe am Montagvormittag in der Landesberufsschule Hallein vor 90 Lehrlingen des dritten Jahrgangs, die meisten sind Burschen. „Mein Sohn Tobias hat sich vor sechs Jahren das Leben genommen, er war 29 und natürlich ist nichts mehr so, wie es bis dahin war.“ Im Raum ist es still. „Wir alle fragen uns, was haben wir übersehen, was hätten wir besser machen können, warum haben wir denn nicht gespürt, dass der Tobi nicht einfach nur schlecht drauf war, sondern eine schwere psychische Krankheit hatte? Und warum hat Tobias uns irgendwann nicht mehr lesen können und nicht erkannt, dass seine Freundinnen und Freunde und wir als Familie immer versucht hätten, ihn zu unterstützen?“
Er werde auf diese Fragen keine Antwort bekommen, „ich werde sie mitnehmen in das Grab, in dem Tobias jetzt schon liegt“, sagt Marboe. Aber einen Befund hätten die Familie und Tobias’ Freunde seit damals: „Wir wussten zu wenig über Fragen des psychischen Wohlbefindens.“ Zwei Dinge wünsche er seinen zwei wunderbaren Enkelkindern im Alter von 6 Jahren und 18 Monaten: „Dass sie in einem Umfeld aufwachsen, wo man für Gefühle Worte kennenlernt und über Gefühle spricht. Und wenn es einmal nicht klappt mit den Emotionen, dass die Enkelkinder die Kraft, Kompetenz und den Mut haben, um Hilfe zu fragen.“
Um jungen Menschen altersgerecht in verschiedenen Modulen ein Grundwissen über psychische Gesundheit an die Hand zu geben, die Anlaufstellen vorzustellen, mit Mythen und falschen Glaubenssätzen über psychische Erkrankungen aufzuräumen, Tabus zu brechen und Hemmschwellen abzubauen, hat Golli Marboe gemeinsam mit Fachleuten 2022 die Tage der psychischen Gesundheit (Mental Health Days) ins Leben gerufen. 100.000 Schülerinnen und Schüler wurden mit diesem Präventionsprojekt bisher an mehr als 110 Schulen in fünf Bundesländern erreicht, nun bietet Marboe das Programm auch in Salzburg an – in Abstimmung mit der Bildungsdirektion und der Arbeitsgruppe zum Thema psychische Gesundheit an den Schulen im Bundesland. Ein Modul für Lehrkräfte und ein psychosozialer Elternabend sind Teil des Projekts, das auch evaluiert und wissenschaftlich begleitet wird.
In der Arbeitsgruppe sitzt auch Stefan Pressnitz, der stellvertretende Leiter der Landesberufsschule in Hallein. „Themen rund um psychische Gesundheit schlagen bei uns an der Schule immer wieder auf, die Beratungslehrer und Kollegen berichten, dass sie damit konfrontiert sind.“ Ziel des Pilottages sei es, Schülerinnen und Schüler aufmerksam zu machen, dass psychische Probleme nichts Außergewöhnliches seien und dass es Hilfsangebote gebe.
Zunächst geht es an der Schule um die Themen Suizidalität und Ängste. „Ich möchte einen Beitrag leisten, damit es leichter wird, über diese Dinge zu reden“, betont Marboe. Eingeladen hat er die Halleiner Psychotherapeutin Lisa Glück. Sie gibt den Jugendlichen eine Botschaft mit: „Die wenigsten Betroffenen wollen sterben, sie wollen nur so nicht mehr leben.“ Glück vermittelt den Lehrlingen auch, dass es richtig sei, bei Anzeichen jemanden zu fragen, ob er oder sie daran denke, sich das Leben zu nehmen. „Es ist ein Mythos, dass diese Frage jemanden erst auf die Idee bringen könnte. Es ist wichtig, das Gegenüber wahrzunehmen.“ Mehr als 80 Prozent der Suizide seien angekündigt. Suizidalität bahne sich an und habe eine lange Vorgeschichte. „Wichtig ist, dass eine Person ernst genommen wird und nicht allein bleibt.“
Die mit Abstand meisten Suizide begehen Männer über 50 Jahre. Jedoch: Unter jungen Erwachsenen bis 30 sind Suizide die zweithäufigste Todesursache. Und: Im Vergleich zur Zeit vor Covid hat sich die Zahl der Suizidversuche bei Jugendlichen bis 18 Jahre verdreifacht.
Suizidalität hänge eng mit psychischen Erkrankungen zusammen, erläutert Glück. Diese seien gut behandelbar. Eindringlich weist Glück auf einen Irrglauben hin: „Moderne Antidepressiva können anders als Schlaf- oder Schmerzmittel nicht körperlich abhängig machen.“ Der Gebrauch von Medikamenten bei psychischen Krankheiten gehöre entstigmatisiert. Die Medikamente würden helfen, Gefühlszustände zu ändern und den Botenstoffhaushalt im Gehirn in Ordnung zu bringen. „Man kann oft psychische Störungen in der Therapie erst behandeln, wenn Medikamente unterstützend dabei sind.“ Tobias habe keine Medikamente genommen und sei nicht in Therapie gewesen, schildert Marboe. Der Psychiater, den er selbst nach dem Tod von Tobias aufgesucht habe, habe ihm erklärt, dass die Krankheit das Wesen von Tobias verändert habe. „Ärztlich verordnete Medikamente hätten ihm helfen können, zu sich zurückzufinden.“
Für die Lehrlinge im zweiten Jahr kommen in der Landesberufsschule begleitet von der Halleiner Psychologin Maria Birenti die Themen Depression sowie Leistungsdruck und Prüfungsangst zur Sprache. „Genauso wie um die Gesundheit unserer Körper sollten wir uns um die Gesundheit unserer Seele kümmern“, betont Marboe zusammenfassend. „Ich bemerke, dass wir in unserer Gesellschaft immer mehr über Fragen des psychischen Wohlbefindens reden, aber eigentlich ist das viel zu wenig.“ Ziel sollte es sein, in einer Gesellschaft zu leben und zu arbeiten, in der weniger Menschen krank werden. „Prävention müsste viel früher beginnen.“ Hilfe holten sich viele erst, wenn die Krise schon akut sei. „Für mich wäre der Idealfall, wenn man alle drei Monate vorbeugend zur Psychotherapie gehen würde.“
Marboes Leben hat sich seit dem Tod von Tobias verändert. Er glaubt an ein Leben nach dem Tod. „Ich habe für mich entschieden, dass ich die Sehnsucht zulasse, einem Menschen, der gegangen ist, noch einmal begegnen zu wollen. Wie könnte ich ohne diese Hoffnung leben?“ Er halte oft Zwiesprache mit Tobias. 2021 hat Marboe ein Buch mit Notizen an Tobias veröffentlicht. Einen Satz von Tobias möchte Marboe jungen Menschen mitgeben: „Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, weil die Hoffnung gar nicht sterben kann.“ Auch wenn man eine Krise als noch so schrecklich empfinde. „Wenn man sie hinter sich hat, ist man froh, wenn man noch da ist.“ Avos bietet an Salzburger Schulen das ganzheitliche Projekt „lebenswert“ zur Suizidprävention und das Projekt „Fokus Mentale Gesundheit“ an.
Von Barbara Haimerl, 15. Oktober 2024, aus Salzburger Nachrichten