Lassen wir unsere Kinder mit ihren psychischen Problemen alleine?

Von Golli Marboe, Herbst 2024, aus Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan

„Graphic Protokoll" – so wie es live in jeder Schule im Rahmen der „mental health days“ hergestellt wird

Golli Marboe hat es sich nach dem tragischen Verlust seines Sohns zur Aufgabe gemacht, gegen die Tabuisierung von Depression und Suizid zu kämpfen. Vor zwei Jahren initiierte er die „mental health days“ – Tage der psychischen Gesundheit – , um mehr Bewusstsein für einen respektvollen Umgang mit sich selbst und auch anderen zu schaffen.

„Habt ihr heute schon über eure Gefühle, die eigene Psyche nachgedacht?“ – kaum ein Jugendlicher hebt die Hand. Ganz anders als bei der Frage, die zuvor im Rahmen der „mental health days“ an die bisher etwa 75.000 Lehrlinge und jungen Erwachsenen zu Beginn jedes Workshops gestellt wurde: „Wer von euch hat heute schon Zähne geputzt?“ – da gehen ausnahmslos alle Hände in die Höhe.

Eigentlich keine große Überraschung, denn wer in unserer Gesellschaft beginnt den Tag mit einer Reflexion über die eigene Seele? Anders als mit dem täglichen Zähneputzen leben wir keine täglichen Rituale, den Tag mit der Frage zu beginnen: Wie geht es mir heute? Habe ich Sorgen, weil in meinem Umfeld jemand gemobbt wird, und ich nicht weiß, wie ich helfen kann? Habe ich Angst vor Krieg, vor dem Klimawandel, der Zukunft? Oder geht es mir gut, weil ich frisch verliebt bin?

Seit zwei Jahren gibt es an Österreichs Schulen für Lehrlinge und Schülerinnen im Alter von 10 bis 19 Jahren die „mental health days“. Eine Initiative, die drei Ziele verfolgt und dazu einen kleinen Beitrag leisten soll: die Sichtbarkeit des Themas „psychisches Wohlbefinden“ verbessern zu helfen, für Gefühle Worte zu finden und über Gefühle sprechen zu lernen und schließlich die zahlreichen Hilfseinrichtungen bekannter zu machen, die bei psychischen Themen unterstützen können.

Ja, es stimmt, dass in den letzten Jahren mehr über Fragen der psychischen Gesundheit gesprochen wird. Dabei werden zu Recht mehr Kinder- und Jugendpsychiatrieplätze gefordert, oder dass die Kosten für Psychotherapie zur Gänze von den Krankenkassen getragen werden müssten. Natürlich ist das richtig, aber ist das nicht viel zu wenig: denn da sprechen wir in der Regel von Sanierung. Wäre es nicht oberstes Ziel, an einer Gesellschaft zu arbeiten, in der weniger Menschen psychisch krank werden?

Es geht um Prävention!

Es ginge darum, die Kompetenz zu erwerben, dass Gefühle keine Krankheiten sind, sondern zum Menschsein dazugehören und den Menschen ausmachen. Es ginge darum, dass auch Erziehungsberechtigte als Betroffene wissen: wie weit kann ich persönlich unterstützen und wann muss ich Experten zu Rate ziehen, wenn aus Emotionen möglicherweise Krankheiten werden.

Im Rahmen unseres Projektes führen wir in Kooperation mit der Universität Wien auch eine wissenschaftliche Studie – die „mental health days“-Studie – durch und diese zeigt, dass Kinder und junge Erwachsene zwischen 10 und 20 Jahren zu über 90 Prozent mit ihrer Lebenssituation, mit Freundinnen, Freunden und auch mit ihren Familien zufrieden sind.

Andererseits geben die gleichen etwa 7000 jungen Menschen in der „mental health days“-Studie 2023 allerdings an, dass 67 % von ihnen in den zwei Wochen vor Ausfüllen des wissenschaftlichen Fragebogens unter depressiven Episoden gelitten hätten. Und 27 %, also mehr als ein Viertel der Befragten, fühlten sich belastet durch Suizidalität.

Diese Zahlen übersteigen frühere Werte in Studien über junge Erwachsene vor und in der Pubertät doch beträchtlich.

Wie passt das zusammen? Unsere Kinder sind zufrieden mit Familie und Freunden, haben aber dennoch gravierende psychische Probleme?

Entweder haben wir früher andere Fragen gestellt, die psychischen Themen der jungen Erwachsenen nicht gesehen, oder es hat sich in den letzten Jahren mit den multiplen Krisen doch etwas geändert:

Auch in harmonischen Familien in wirtschaftlich stabilen Verhältnissen starben Verwandte an Covid – weder Geld noch Einfluss konnten das verhindern.

Wir alle wissen, man soll nicht töten, der Vater der ukrainischen Mitschülerin hat als Soldat bei der Verteidigung gegen Putin dennoch keine andere Wahl – niemand scheint das stoppen zu können.

Die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler meint, dass der Klimawandel von Menschen gemacht ist, aber gleichzeitig fahren wir auf der Autobahn weiterhin 130 km/h statt der empfohlenen 100 km/h.

Aus diesen konkreten Ängsten haben sich diffuse und generalisierte Ängste entwickelt, die von Eltern oder vom Freundeskreis nicht gelöst werden können.

Wie sollten wir diesem Phänomen begegnen

Nicht zuletzt durch Abgrenzung – Eltern sind in der Regel nicht verantwortlich und schon gar nicht schuld an psychischen Krisen der Kinder. Genausowenig, wie sie an einer Blinddarmentzündung schuld wären. Beim Blinddarm holen Eltern Hilfe, kämen nie auf die Idee, die Tochter oder den Sohn selbst zu operieren.

Warum aber denken viele Erziehungsberechtigte, dass sie eine Depression, eine Essstörung oder auch Suizidale Krisen mit den Hausmittelchen eines guten Gesprächs, mit der richtigen Musik oder einem Spaziergang in der Natur wieder in Ordnung bringen könnten?

Nein – verantwortungsvolle und liebende Eltern holen auch bei psychischen Problemen ihrer Kinder Rat und Hilfe von Profis. So wie beim Blinddarm ein Chirurg die Operation durchführt, so sollte im Falle einer psychischen Krise eben eine klinische Psychologin, eine Psychotherapeutin oder ein Psychiater das Problem zu lösen versuchen.

Menschen, die psychisch belastet sind, auf Augenhöhe zu begegnen, heißt eben auch, dass man sich selbst nicht überschätzt. Dass man nicht denkt, es sei Teil der Aufgabe von Erziehung bei jedem psychischem Problem auch eine Lösung anbieten zu müssen.

Einen kleinen Beitrag zu einem Dialog auf Augenhöhe möchten wir mit den „mental health days“ in Österreichs Schulen leisten – dort sprechen wir mit den jungen Erwachsenen über Mobbing, Körperbild und Essstörungen, Handysucht, Leistungsdruck, Prüfungsangst, über Sucht, Depression, Suizidalität und über Ängste. Einfach damit man lernt, einander auch zu solchen Fragen auf Augenhöhe zu begegnen.

Artikel von Golli Marboe, Herbst 2024, aus Pfarrblatt Dompfarre St. Stephan

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So schaffen es die „Mental Health Days“, dass Schüler über psychische Gesundheit sprechen